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Die Geschichte prägt unseren gegenwärtigen Veloalltag auf vielfältige Art und Weise. Eine besonders nachhaltige Form sind die Strassen und Wege auf denen wir unterwegs sind. Mit leichten regionalen Abweichungen ist der überwiegende Teil der gegenwärtigen Strasseninfrastruktur auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet. Verantwortlich dafür sind auf der einen Seite ein Mix aus vergangenen Fortschrittsvorstellungen, Mobilitätsimaginationen und eine daraus gespiesene Verkehrspolitik. Die Infrastruktur, die aus dieser Gemengelage entstanden ist, sind die Strassen auf denen wir uns heute bewegen. Auf der anderen Seite prägen uns die Interpretationen und Vorstellungen, die sich mit der Verwendung dieser Infrastruktur eingestellt haben. Sowohl diese Vorstellungen wie auch die materielle Infrastruktur sind träge und sie widersetzen sich raschem Wandel vehement.
Die Natürlichkeit der Infrastruktur
Einmal gebaut erscheint uns die Strasseninfrastruktur fast natürlich gegeben und wir vergessen, dass bewusst gefällte Entscheidungen, unbewusste Verhaltensroutinen und verinnerlichte Vorstellungen an ihrer Entstehung beteiligt gewesen sind. Die gegenwärtigen Verhältnisse wirken dann so, als ob es immer schon so gewesen wäre und auch in Zukunft so bleiben wird. Deswegen ist die kaum hinterfragte Meinung vorherrschend, dass die Strasse hauptsächlich für Autos, Lastwagen oder Busse da ist und weder Fussgängerinnen und Fussgänger noch Velofahrerinnen und Velofahrer darauf viel Platz einnehmen sollten. Letztere dürfen die Strasse höchstens ganz am Rand, hintereinander fahrend benutzen.
Autos und Lastwagen sind grösser und schneller als Velos also benötigen sie natürlich auch mehr Platz auf der Strasse. Breitere Strassen sind dann die offensichtliche Antwort auf breitere Autos. Dem zunehmenden Verkehr begegnet man deshalb damit, dass man neue Strassen baut oder mehr Spuren anlegt. Diese Massnahmen scheinen in der Natur der Sache zu liegen und sie benötigen fast keine Begründung. Gestritten wird darüber, wie der Strassenverlauf aussehen oder ob die neue Strasse als Tunnel im Berg versteckt werden soll. Wenn man sich explizit gegen solche Massnahmen ausspricht erntet man eher Kopfschütteln als Verständnis.
Ein Blick in die Mobilitätsgeschichte zeigt, dass die Strassen nicht immer schon für Autos da gewesen sind – im Gegenteil. Die ersten Förderer des modernen Strassenbaus waren passionierte Velofahrer, die sich nicht mehr mit den ruppigen Staubpisten zufrieden geben wollten. Das Automobil wurde bei seinem sporadischen Auftauchen im frühen 20. Jahrhundert keineswegs auf den Strassen willkommen geheissen. In England äusserte sich 1903 ein konservativer Parlamentarier beinahe klassenkämpferisch, dass „the roads of England were made for the people, and they should not be monopolised by a certain section, no matter whether they belonged to the poor or the rich.“ Im Kanton Graubünden wurde sein Einsatz um 1900 gar verboten. Das Autoverbot wurde erst 1925 aufgehoben und zwei Jahre später durch ein neues Strassengesetz ergänzt. Die Abstimmungspropaganda versuchte offenbar bereits damals mit heterophoben Argumenten zu mobilisieren.
Es benötigte mitunter koordinierte Aktionen von Politik und der Autoindustrie um Velofahrerinnen und Velofahrer, aber auch Fussgängerinnen und Fussgänger, Fuhrwerke, Trams oder gar Busse von der Strasse zu verbannen. Ähnlich wie heutzutage der „Smombie“ erfunden wird, der scheinbar ins Handy versunken unachtsam über die Strasse geht, waren es vor nicht ganz 100 Jahren der „Jaywalker“ und spielende Kinder, denen man die Benutzung der Strasse abgewöhnen wollte. Seither haben die Autos auf der Strasse den Vortritt und man soll die Fahrbahn nur noch an den dafür vorgesehenen Stellen – etwa den Fussgängerstreifen – betreten. Das Gebot ist mittlerweile gar mit Bussen, polizeilichen Ermahnungen und schiefen Blicken von Mitmenschen bewehrt.
Verkehrspolitisches Umdenken und das Mountainbike
Auf diese Situation gibt es unterschiedliche Reaktionen: Seit einigen Dekaden versuchen Akteure aus den verschiedensten Milieus ein Umdenken in der Verkehrspolitik anzustossen. Angesichts der Trägheit von Infrastruktur und kulturellen Vorstellungen geschieht dies mit unterschiedlichem Erfolg: Während Städte wie Amsterdam und Kopenhagen und seit der Jahrtausendwende auch Grossstädte wie New York und London zu globalen Vorbildern in der Veloförderung geworden sind, warten die Velofahrerinnen und Velofahrer in meinem Wohnkanton mittlerweile in der dritten Dekade auf die vollständige Umsetzung des 1994 verabschiedeten Radroutenkonzepts.
Ungleich erfolgreicher scheint eine andere Antwort gewesen zu sein: Man begann zunehmend das Fahrradvergnügen abseits der Strasse zu suchen. Das Mountainbike hat sich seit seinen Anfängen in den späten 1970er Jahren mittlerweile als wichtiger Bestandteil der Fahrradkultur etabliert. Es steht für Vergnügen und Freizeit in der Natur. Etablierte Fremdenverkehrsregionen wie Graubünden oder die Zentralschweiz erkennen darin sogar eine Möglichkeit, die touristische Wertschöpfung langfristig zu sichern.
Der Erfolg des Mountainbikes mag vielleicht aber auch darin liegen, dass durch das off-roaden, die Hoheit des Automobils auf der Strasse nicht angetastet wurde. Im Gegenteil, das Auto und das Mountainbike scheinen sich ideal zu ergänzen. Mit dem Auto oder dem Camper lässt sich das Bike unkompliziert in die Tourismusregion oder den Trailanfang transportieren. Gleichzeitig wird das Velo dadurch fest im Freizeitbereich verankert und nicht als Transportmöglichkeit für den Alltag wahrgenommen. Jene, die mit dem Velo zur Arbeit möchten, scheinen deshalb vom Mountainbikeboom – bis auf nicht zu vernachlässigende technische Innovationen wie beispielsweise Dämpfungen und Scheibenbremsen – kaum einen Vorteil zu haben.
Alternative Routen: Verkehrsberuhigt um den Sempachersee
Eine weitere Lösung, die gleichermassen für den Alltag wie für die Freizeit in Frage kommt, ist das Suchen und Finden von verkehrsarmen Strassen. Alle die schon mal auf offiziellen Radrouten – wie etwa von Schweizmobil – unterwegs gewesen sind und zügig vorankommen wollten, kennen den Kompromiss, den man dabei eingehen muss. Die Routen wurden aus dem bestehenden Strassennetz so ausgewählt, dass man möglichst nicht dem Verkehr ausgesetzt ist. Der direkte Weg ist meist nicht fahrradtauglich ausgebaut oder nur für verkehrsgestählte und selbstsichere ZweckradlerInnen geeignet. Deshalb muss man als Nutzerin oder Nutzer der vorgeschlagenen Routen immer wieder verlängernde Umfahrungen und Umwege in Kauf nehmen. Ist man aber als FreizeitradlerIn unterwegs, kann darin gerade ein Reiz der Velotour liegen. Investiert man etwas Zeit, findet man im Angebot der kleinen Strässchen und Feldwegen unzählige Möglichkeiten für eine attraktive Radroute.
In diesem Geiste habe ich mir das Ziel gesetzt, die Runde um den Sempachersee, eine landschaftlich attraktive (und herbst-/wintertaugliche) Radtour im Kanton Luzern, durch eine alternative Routenwahl zu erschliessen. Die übliche Runde führt auf dicht befahrenen Überlandstrassen um den See. Auf der Südseite des Sees findet man sich zwischen Nottwil und Emmenbrücke gar auf einem nervenaufreibenden Abschnitt direkt auf der schmalen Strasse wieder. Diese Strasse wurde bereits im kantonalen Radroutenkonzept von 1994 mit der höchsten Priorität für den Umbau vorgesehen. Der Abschnitt verfügt jedoch bis heute weder über einen Radweg noch über einen durchgehenden Radstreifen. Man ist deshalb auf ungefähr zehn Kilometern den teilweise knapp vorbeizischenden Autos ausgesetzt.
Der Routenwahl habe ich die Prämisse zugrunde gelegt, dass die Strecke verkehrsarm sein und trotzdem mehrheitlich über Asphalt führen soll. Die zweite Bedingung war, dass ich den Fusgängerinnen und Fussgänger den Platz nicht streitig mache. Damit fiel die direkte Strecke auf dem schmalen Schotterweg auf der Südseite des Sees weg. Ich musste deshalb mit Umwegen und Höhenmetern planen, was mir aber gleichzeitig die Möglichkeit bot, Sehenswürdigkeiten in die Route einzubauen. Nach etwas Planung habe ich folgende Variante ausprobiert:
Luzern verlasse ich auf dem Radweg entlang der Reuss Richtung Emmen. In Emmen biege ich links ab und überquere die Piste des Militärflugplatzes im Emmenfeld. Ab 1924 als ziviler Flugplatz für die Erschliessung der Tourismusregion um Luzern geplant, wurde das Projekt vom Militär übernommen und zur Entlastung für die stark wachsende Luftwaffe gebaut. Nach einer fast zwanzigjährigen Planungs- und Bauphase wurde der Flugplatz 1939 eröffnet. Der erste militärische Düsenjet der Schweizer Luftwaffe – eine Vampire – landete 1949 in Emmen. Das letzte Exemplar wurde vom britischen Fliegerass John Cunningham in der „Operation Snowball“ nach Emmen überführt. Der Name rühre daher, dass er seine Skier an den Heckauslegern des Flugzeugs befestigt hätte, um später noch Winterurlaub machen zu können.
Mit dem Fahrrad geht es nach der Querung der Piste einen kurzen Anstieg hoch. Dann am Waffenplatz und der Kaserne vorbei weiter nach Rothenburg. Bei Wegscheiden – nomen est omen – biege ich Richtung Sempach ab.
Die Strasse führt vorbei an der Autobahnraststätte Neuenkirch und dem Schweizerischen Schweinezuchtverband ins mittelalterliche Städtchen von Sempach.
Auf der Fahrt durch die Stadt wundere ich mich, wieviel knappen Platz man hier dem Auto überlässt. Die Geschwindigkeitsmessanlage mitten in der Altstadt scheint in dieser Hinsicht für sich zu sprechen. Etwas enttäuscht verlasse ich Sempach zügig auf der Nordseite durch das Surseer Tor.
Das Tor wurde erst in den 1980er Jahren in mittelalterlicher Manier rekonstruiert. Etwas, das für scheinbar mittelalterliche Städte nicht untypisch ist. Auf Luftaufnahmen von 1957 ist es noch nicht zu entdecken. Dafür lassen sich darauf schon Autos ausmachen, die in der Stadt abgestellt wurden.
Ausserhalb der Stadt fahre ich, statt links auf der Überlandstrasse Richtung Eich und Sursee, direkt über den Kreisverkehr geradeaus. Die Strasse ist zwar auch schmal und stark befahren und obwohl es sich bei diesem Abschnitt um eine offizielle Route von Schweizmobil handelt, fehlt ein Radstreifen. Ich bezwinge den überraschend steilen Anstieg auf dem Trottoir. Es ist der einzige Kompromiss, den ich, meiner Sicherheit zuliebe, auf dieser Tour eingehen muss.
Der kurze Aufstieg lohnt sich jedoch. Biegt man beim Wegweiser von SchweizMobil links ab, erreicht man nach wenigen Metern einen beschaulichen Weiler.
Die Siedlung beherbergt die pittoreske Kirche St. Martin auf Kirchbühl. Der heutige Bau stammt aus dem 13. Jahrhundert, was die Kirche zu einer der ältesten im Kanton Luzern macht. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war sie die Pfarrkirche Sempachs, die jedoch aufgrund ihrer abseitigen Lage schon früh an Bedeutung eingebüsst hat. Deswegen scheint sie auch den Wandel der letzten Jahrhunderte erstaunlich unberührt überstanden zu haben. So konnte eine Restauration in den Jahren 1901-1911 leicht den„ursprünglichen“ mittelalterlichen Zustand wieder herstellen. Die Innenwände sind mit gut erhaltenen Fresken aus dem 14. Jahrhundert bemalt, die aufgrund ihrer Vollständigkeit offenbar von hoher kulturhistorischer Bedeutung sind.
Nach einigen kontemplativen Minuten und einer Rast gelange ich bald hinter der Kirche auf ein kurzes Stück auf einer Naturstrasse. Man fühlt sich in die Zeit der frühen Radlerinnen und Radler zurückversetzt, für die solche Strassen wohl der Normalfall gewesen war. Im trockenen Zustand ist dieser Abschnitt mit jeder Art Rad, selbst mit dem Rennvelo, problemlos zu meistern.
Nach Eich, das am oberen Rand gestreift wird, führt die Strasse wieder nach oben. Statt auf der sich direkt an die Autobahn anschmiegenden Veloroute fahre ich weiter hoch und biege beim Kreisverkehr „Eichhof“ links in eine schmale Strasse mit einem Fahrverbot für Autos und Motorräder ein.
Diese Strasse bietet einen schönen Rundblick auf den Sempachersee, den Pilatus und die gegenüberliegenden Höhenzüge. Die tiefer liegende Autobahn hört und sieht man nicht. Sie taucht erst wieder auf, als ich sie nach einer kurzen Abfahrt zurück an den See unterquere. Von da geht es dem See entlang nach Sursee, in das nächste mittelalterliche Städtchen hinein.
Obwohl Sursee auch mit dem Auto befahren werden kann und Parkplätze vorhanden sind, wirkt das Städtchen aufgeräumter und gastfreundlicher als sein Gegenüber auf der Südseite des Sees. Hier würde sich durchaus eine Rast anbieten um die engen Gassen zu erkunden und die mittelalterlich scheinende Atmosphäre wirken zu lassen. Bis auf die Fuhrwerke, die den Autos gewichen sind und den neuen Belag, scheint sich auf den ersten Blick in den letzten hundert Jahren kaum etwas verändert zu haben.
Vom nördlichen Seeende führt der Weg wieder zurück nach Süden. Unspektakulär aber mit einem Gefühl der Sicherheit radle ich auf dem Radstreifen und etwas später auf einem Radweg nach Nottwil. Auf dem Radweg kreuzen mich Kinder auf Kindervelos, ältere Herren auf Damenfahrrädern und Rennfahrer mit Aerohelm auf Zeitfahrmaschinen. Die Diversität scheint ein erfreuliches Zeichen für ein hohes Sicherheitsempfinden auf dem Veloweg zu sein. In Nottwil befindet sich der Campus der Schweizerischen Paraplegiker-Stiftung, das sich der Rehabilitation von Personen mit Querschnittlähmung widmet. Ausgerechnet vor dem Paraplegiker-Zentrum endet allerdings der Radweg und die Alternativroute zur Überlandstrasse nach Neuenkirch und Emmenbrücke beginnt.
Dass ich nun einige Höhenmeter mache ist unausweichlich, dafür ist die Strasse schmal und kaum befahren. Die Szenerie hoch über dem Sempachersee wird nun sehr beschaulich.
Die Fahrt geht vorbei an Bauernhöfen und emsigem Bauernvolk. Die Namen der Weiler werden so idyllisch wie die Landschaft. Ich radle auf einer schmalen Strasse durch den Sparre- und den Homelwald und gelange nach Windblosen, mit einer ausgezeichneten Käserei, die Emmentaler produziert.
Von da geht es weiter nach Ausserwindblosen und über das Ankeland nach Hunkelen. Mit dem Mountainbike kann man auch den direkten Weg durch den Windblosenwald wählen und so zusätzliche Höhenmeter vermeiden.
Eine kurze Abfahrt führt hinab nach Hellbühl und auf die stark befahrene Hauptstrasse, die ich jedoch nach knapp 300 Meter rechts verlasse. Bei Oberlimbach wird es wieder beschaulich und ich radle auf schmalen Strässchen durch die Landschaft.
Auf dem Littauerberg bleibt die Strasse schmal, doch der Verkehr nimmt zu meiner Verwunderung zu. Die Automobilistinnen und Automobilisten machen aufgrund der Nummernschildern nicht den Anschein, als ob sie in dieser Gegend wohnen würden. Ich wundere mich deshalb, weshalb man diese abgelegene Strecke auf sich nimmt.
Es sind wohl die Bauernschlauen, die denken so schneller vorwärts zu kommen. Nicht zur Freude des Radlers, der mit den teilweise ziemlich ruppig fahrenden Autos zurechtkommen muss und sein ursprüngliches Vorhaben in Gefahr sieht. Man erreicht jedoch schnell Emmenbrücke und die bäuerliche Gegend transformiert sich unmittelbar nach der Umrundung eines kleinen Hügels zur städtischen Agglomeration.
Die Bilanz am Ende der Tour ist zwiespältig: Gegenüber der direkten Strecke auf der Kantonsstrasse macht man zwar einige Kilometer und Höhenmeter mehr. Als Fahrradpendler würde mich das zweifellos ärgern, doch als Ausflügler mache ich das Übel zur Tugend und erkunde (verkehrs-)beruhigt einige Sehenswürdigkeiten der Luzerner Landschaft. Als ich jedoch erneut in den Aussenbezirken von Luzern ankomme, wird mir wieder schlagartig bewusst gemacht, wie marginalisiert die Velofahrerinnen und Velofahrer auf der Strasse sind. Kaum nimmt der automobile Verkehr wieder zu, wird den Radlerinnen und Radler nur noch der äusserste Strassenrand gelassen. Die teilweise sehr knappen Überholmanöver erzeugen den Eindruck, dass selbst dies nur äusserst widerwillig geschieht. Für die Umrundung des Sempachersee zeichnet sich hingegen ein Silberstreifen am Horizont ab: Der durchgehende Radweg von Nottwil zur Lohrensäge auf der Südseite des Sempachersees wurde 2017 erneut priorisiert. Deshalb kann man sich vielleicht der verwegenen Hoffnung hingeben, bald eine direktere Route wählen zu können.