Eine kleine Geschichte des Offroad-Rads (Teil 1 – Fortsetzung)

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Von den 1860ern bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Fortsetzung)

Beliebte Strassen und die Standardisierung des Radsports

So wie heute die Bikemagazine mit Tourenvorschlägen für Offroad-Strecken gefüllt sind, konnte man sich in den frühen Velozeitschriften über besonders gute Strassen informieren. Bei den Radlerinnen und Radlern in England, dem Ursprungsland des modernen Fahrrads, war beispielsweise die Portsmouth Road besonders beliebt. Die Strasse führte von London, der Hauptstadt des Empires, zum bedeutendsten Hafen der Royal Navy und war deswegen gut ausgebaut und vergleichsweise glatt. Als die Kutschen aufgrund der Eisenbahn an Bedeutung einbüssten, nahmen die Velofahrerinnen und Velofahrer die Strasse in Beschlag. Seit den 1880er Jahren führte ein beliebter Tagesausflug vom Londoner Battersea Park nach Ripley um in den dortigen Gaststätten einzukehren und sich so gestärkt wieder auf den Rückweg in die Metropole zu machen. Viscount Bury, ein Fahrradenthusiast der ersten Stunde, adelte die Ripley Road gar als das Mekka aller engagierten Radlerinnen und Radler.

Blick von Littleworth Common nach Thames Ditton auf der Ripley Road
Quelle: Cycling World Illustrated, 18. März 1896
© British Library Board (General Reference Collection 1896 LOU.LON 91 [1896])

Was den Tourenradlerinnen und -radler recht war, konnte den Radsportlerinnen und -sportler nur billig sein. Je glatter der Untergrund, desto raschere Geschwindigkeiten wurden möglich. Obwohl seit der Erfindung des Velos immer auch Rennen auf öffentlichen Strassen ausgetragen wurden, haben sich im Wettkampfbereich gleichzeitig Rennbahnen mit glatten Pisten etabliert. Es wurden Rundkurse aus Asche, später aus Holzplanken oder Zement gebaut. Dank dem feinen Untergrund konnten bereits Hochradrennen unter vergleichsweise guten Bedingungen durchgeführt werden. Die Rennmaschinen waren dadurch nicht nur komfortabler zu fahren, sondern vor allem auch viel schneller.

Radrennbahn mit Holzleisten in Herne Hill, London
Quelle: Cycling World Illustrated, 15. July 1896
© British Library Board (General Reference Collection 1896 LOU.LON 91 [1896])

Bei Zeitfahr- und Ausdauerwettbewerben ist man als Alternative zu den Rundkursen auch auf besonders gute Strassen ausgewichen. In England wurde dazu etwa die Great North Road genutzt, die – ähnlich der Portsmouth Road – als Hauptverbindung zwischen London und Schottland stets in gutem Zustand gehalten wurde. Ein Journalist beschrieb diese Strasse 1886 in der Zeitschrift Wheel World als „Elysium für Rennfahrer“ und einzelne Streckenteile gar als „miles of the best road in the world“.

Great North Road in East Finchley im Norden Londons
Cycling World Illustrated, 17. Juni 1896
© British Library Board (General Reference Collection 1896 LOU.LON 91 [1896])

Dank den Rennbahnen und der beinahe routinemässigen Nutzung von Strassen wie der Great North Road konnten mehrere Faktoren kontrolliert werden. Der Untergrund war glatt und die Streckenführung war für alle Wettbewerber ähnlich. Solcherart standardisierte Bedingungen erlaubten die Leistungen der Rennfahrer nicht nur innerhalb eines einzelnen Rennens, sondern über verschiedene Renntage hinweg vergleichen zu können. So wurde es möglich, dass man Listen mit den aktuell schnellsten Zeiten für bestimmte Streckenlängen zusammenstellen konnte: die Stunden- und Streckenrekorde.

Ausschnitt aus einer Liste mit Rennbahnrekorden, aus: Viscount Bury & G. Lacy Hillier, Cycling (Badminton Library), 3. Aufl. London: 1891

Andere Rennformate wie die anforderungsreichen Fernradrennen – etwa Paris-Brest-Paris, das über 1’200 Kilometer führt und erstmals 1891 durchgeführt wurde – oder Etappenrennen wie die Tour de France, die 1903 ins Leben gerufen wurde, mussten nicht nur wegen ihrer Länge, sondern gerade auch wegen der Austragung auf herkömmlichen Schotterstrassen als unmenschliche Tortur gelten. Der lockere Strassenuntergrund, über den die Rennfahrer gejagt wurden, versprach zusätzlichen Nervenkitzel. Dadurch wurde nicht nur die Gesundheit der Fahrer strapaziert, sondern auch das Material musste genügend robust sein, um sich auf den Strecken zu bewähren.

Charles Terront, der Gewinner der ersten Austragung von Paris-Brest-Paris 1891, auf einer  Humber Rennmaschine mit pneumatischen Reifen
Quelle: Wikimedia Commons

Den heutigen Mountainbikes nicht unähnlich, wurden diese frühen Rennräder aufgrund der unebenen Strassen mit dicken Pneus ausgestattet. Solche Rennen scheinen daher erst mit der Verfügbarkeit des Luftreifens überhaupt in den Bereich des Möglichen gerückt zu sein.

Octave Lapzie, der Gewinner der Tour de France 1910 in den Pyrenäen
Quelle:
Bikeraceinfo

1910 beinhaltete die Tour de France zum ersten mal auch hohe Pyrenäenpasse wie den Tourmalet und den Aubisque. Octave Lapize, der Gewinner dieser Rundfahrt, fuhr das Rennen zwar auf einem robusten Rad, doch sein Sieg führte er auf einen weiteren Grund zurück: Im Winter betätigte er sich im Cyclo-Pédestre, einer anderen Fahrradsportart, deren Strecken noch viel ruppiger ausgestaltet waren. Heutzutage unter dem Namen Radquer oder Cyclocross bekannt, entstand diese Sportart ebenfalls in Frankreich an der Wende zum 20. Jahrhundert. Unter diesen Bedingungen konnten die verwendeten Maschinen nichts anderes als offroad-tauglich sein. Es scheint fast so, als ob man damals den Mountainbikesport bereits ein erstes Mal erfunden hätte. 

Französische Meisterschaft im Cyclo-Pédestre in Fontainebleau, 1922
Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

(Fortsetzung im Teil 2: Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre)

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