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Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre
Aufgrund des Strassenzustands war das Fahrrad in seinen Anfängen zwangsweise ein Gefährt für Naturstrassen und unbefestigte Wege. Mit dem Aufschwung des Automobils im 20. Jahrhundert wurden die Strassen zunehmend asphaltiert. Der Siegeszug des Autos und der Asphaltstrassen bedeutete für das Velo jedoch eine ambivalente Entwicklung: Zum einen gab es immer mehr „gute“ Strassen, zum anderen begann mit dem Aufkommen des motorisierten Verkehrs die Marginalisierung des Velos. Dennoch etablierte sich das Fahrrad – hauptsächlich als Sportgerät – auf den asphaltierten Strassen. Und die Technik hatte sich den neuen Bedingungen angepasst: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Reifen wieder dünner, die Rahmen filigraner und die Räder dadurch leichter. Für die Verwendung auf ruppigem Untergrund schienen sich die Velos, gerade die Rennvelos, immer weniger zu eignen. Durch die Veränderung der Strasseninfrastruktur und den Vorstellungen wofür und von wem das Fahrrad zu benutzen ist, hat sich das Velo vom robusten Drahtesel für unbefestigte Wege und Naturstrassen zur filigranen Rennmaschine für asphaltierte Oberflächen entwickelt.
Abseits der Durchgangsstrassen blieben jedoch viele Schotterpisten und Saumpfade und natürlich Wander- und Fusspfade bestehen. Unter den nun veränderten Bedingungen schien es als aussergewöhnlich, das Velo abseits der Strasse zu benutzen. Exzentrisch oder abenteuerlich veranlagte Personen wagten jedoch das Unterfangen. In den 1950er Jahren wurde in England beispielsweise die Rough Stuff Fellowship gegründet. Ein Veloclub, dessen Mitglieder mit ihren Fahrrädern ausgedehnte Streifzüge in die Berge unternahmen. Ein gerade erschienener Bildband illustriert dessen Geschichte auf eindrückliche Art und Weise und zeigt, dass man auch mit herkömmlichen Alltagsrädern oder gar mit filigranen Rennmaschinen teilweise sehr anspruchsvolle Terrains bewältigen kann.
Auf einer ihrer Reisen besuchte die Fellowship auch meine Heimatstadt Luzern. Gemäss der Notiz im Reisebericht, war es allerdings noch „immer am Regnen“. Es scheint fast, als hätten Britische Fahrradtouristen mit dem Sommerwetter in Luzern bisher wiederholt Pech gehabt.
Wobei der Regen durchaus auch sympathische Vergleiche mit dem Wetter auf der Insel provozierte. Und dann gab es natürlich auch jene Britische Touristen, die etwas mehr Glück hatten, wie beispielsweise Queen Victoria, die vor etwas mehr als 150 Jahren Luzern besuchte und scheinbar begeistert war.
Zurück aber zur Rough Stuff Fellowship: Wie die Bilder zeigen, gehörte das Schieben und Tragen des Rades auch zum Abenteuer dazu. Was alles mit dem Rad möglich ist, scheint also weniger ein Effekt der technischen Merkmale zu sein, sondern insbesondere von der sozialen Wahrnehmung der Maschinen und ihres Einsatzbereichs abzuhängen.
Es gab aber auch bereits Personen, die mit Rädern experimentierten, um sie ausdrücklich abseits der Strassen einzusetzen. John Finley Scott beispielsweise, ein späterer Soziologieprofessor aus Kalifornien, erfand bereits in den 1950er Jahren ein offroad Velo, das den späteren Mountainbikes erstaunlich ähnlich sah. Zwanzig Jahre später wurde Scott denn auch zum ersten Investor in die noch junge Mountainbikebranche.
Zur gleichen Zeit trug ein französischer Radclub auf den Motocross-Strecken rund um Paris Rennen aus. Dazu verwendeten sie Eigenbauten, die sie mit Federgabeln und Scheibenbremsen ausrüsteten. Auch damit wurden bereits technische Innovationen verwendet, die erst sehr viel später, nach der Etablierung des Mountainbikes, zum Standard avancierten.
In Europa und Amerika verlor jedoch das Velo in der Nachkriegszeit zugunsten des Autos rapide an Bedeutung (siehe hier für die Schweiz). Wenn überhaupt, lag die öffentliche Wahrnehmung des Rads eher auf der Rennmaschine oder es wurde gar bloss noch als Spielzeug für Kinder betrachtet. Dieser autozentrierte Kontext bot den Offroad-Innovatoren aus Frankreich, England oder den USA nicht den Boden, auf dem deren Ideen hätten gedeihen können. Schon bei der Nutzung des Rads im Alltag war man zusehends in der Minderheit und wurde marginalisiert. Die damals völlig vernachlässigte Radinfrastruktur ist dabei nur eines der sichtbarsten (und nachhaltigsten) Symptome. Radunternehmungen abseits der asphaltierten Strassen konnten dann umso mehr nur noch eine Angelegenheit für überzeugte Individualistinnen und Individualisten sein.
(Fortsetzung im Teil 3: Von den 1970ern bis 2000 und die Erfindung des Mountainbikes)