The Windmills of our Bikes. Eine kleine Geschichte des Offroad-Fahrrads

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Betritt man einen Veloladen oder klickt man sich durch das Angebot der Velohersteller oder durch Fahrradreviews, fällt auf, dass seit einiger Zeit mit dem „Gravel“ oder „Adventure Bike“ eine neue Gattung von Offroad-Velos angepriesen wird. Sie sehen aus wie Rennvelos, haben aber dickere Pneus und Scheibenbremsen. Gleichzeitig gibt es seit Dekaden die sportlichen Cyclocross-Rennvelos oder Mountainbikes, die für ähnliches Terrain abseits der Strasse gebaut sind. Man kann sich deshalb dem Eindruck nur schwer verwehren, dass sich historische Ereignisse wiederholen und die Geschichte zyklisch angelegt ist. Die Technikgeschichte des Velos ist dafür ein gutes Beispiel. Der Kurbelantrieb erlebte mehrere Renaissancen, der Luftpneu wurde mehrfach erfunden und das Velo mit zwei gleich grossen Rädern wurde wiederholt neu lanciert. Zur Zeit erlebt das Offroad-Rad als „Gravel Bike“ eine Wiedergeburt. Ähnlich wie bereits das Mountainbike vor ihm, verspricht es erneut Fahrspass abseits der Strasse und des Verkehrs.

Übersicht über aktuelle „Gravel“ und „Adventure“ Bikes von Road.cc

Da historische Entwicklungen jedoch nur scheinbar zirkulär verlaufen, verbirgt sich hinter jedem Auftauchen von schon mal Dagewesenem ein kleines Rätsel: Welches sind die spezifischen Umstände, die zu einem bestimmten Zeitpunkt dafür sorgen, dass vergangene Innovationen erneut einen Aufschwung erleben? Im Wesentlichen ist das die gleiche Frage die man auch stellen würde, wenn man am Erfolg oder am Scheitern von neuen Innovationen interessiert ist – oder gar an den Gründen, weshalb die Dinge so bleiben wie sie sind. Technische Aspekte geben dabei nie den alleinigen Ausschlag zur Etablierung einer Innovation. Technik benötigt stets auch soziale Kontexte um interpretiert, adaptiert und akzeptiert zu werden – oder eben nicht.

Gerade an der Geschichte des Offroad-Velos lässt sich zeigen, wie die Wahrnehmung der technischen Maschine, der soziale Kontext in dem sie eingesetzt wurde und die Interpretation der Verkehrsinfrastruktur einem Wandel unterworfen waren, der zu einer wiederholten Neuerfindung des Fahrrads für unbefestigte Strassen – zuletzt des „Gravel Bikes“ – geführt hat. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei der Geschichte des Offroad-Velos nicht um eine technische Evolution handelt, die durch intensive trial-and-error-Phasen oder angetrieben von genialen Erfindern von einem technischen Entwicklungsschritt zum Nächsten gelangte. Ich will die Geschichte der wiederholten Erfindung des Offroad-Rads als diskontinuierliche Abfolge von technischen Entwicklungen, Imitationen und Neuinterpretationen erzählen, die als Gegenreaktion auf die jeweils aktuelle Wahrnehmung der etablierten Maschine und ihres Einsatzbereiches zu verstehen ist.

Teil 1: Von den 1860ern bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Zu Beginn der Fahrradgeschichte musste kein spezifisches Rad für unbefestigte Wege erfunden werden. Jedes Velo war damals ein „Gravel Bike“. Strassen mit einer durchgehend glatten Oberfläche waren bis ins 20. Jahrhundert hinein noch wenig verbreitet. Der übliche Untergrund für die frühen Velofahrerinnen und Velofahrer war in den meisten Fällen die Naturstrasse. Staubig im Sommer, matschig in Frühling und Herbst, gefroren im Winter, meist genarbt von Schlaglöchern, Kieshaufen und Steinen. Erst unter Mithilfe von enthusiastischen und geschäftstüchtigen Velofahrern wurden die Strassen zunehmend asphaltiert.

Der Knochenschüttler und die Erfindung des Pneus

Innovationen in der Velotechnik waren deshalb immer auch vom Ansinnen begleitet das Radfahren bequemer zu machen. Die ungemütliche Position im Sattel hatte sich sogar im Spitznamen eines der ersten Velotypen niedergeschlagen. Das „Velocipede“, in den 1860er Jahren in Frankreich entwickelt, bestand aus einem schmiedeeisernen Rahmen mit Holzrädern und erhielt in England den Übernamen „Boneshaker“ – der Knochenschüttler.

Ein Velocipede von Michaux & Cie aus den 1860er Jahren.
Quelle:
Wikimedia Commons

Auch weitere Erfindungen in der frühen Technikgeschichte des Velos leisteten einen Beitrag  zum Fahrkomfort. Auch wenn sie überraschend oft mit einem ursprünglich anderen Ziel entwickelt wurden. Das hohe Rad der „Ordinaries“ etwa wurde vor allem zur Erhöhung der Geschwindigkeit eingesetzt. In einer Zeit als es noch keine Übersetzung gab, konnte man dank dem grösseren Radumfang mit jeder Kurbelumdrehung weiter (und damit schneller) fahren. Spätestens mit der Einführung des Speichenrads hatte der grosse Raddurchmesser jedoch auch eine willkommene Federwirkung.

„Biking Across Town“ auf dem Hochrad in Santa Ana, Kalifornien, 1886
Quelle:
Security Pacific National Bank Photo Collection/ Los Angeles Public Library

Gleichzeitig wurde die Fahrt mit den Hochrädern eine heikle Angelegenheit. Ein Schlagloch, ein grösserer Stein oder gar ein Tier barg die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Fahrer – zu Zeiten der Hochräder waren die meisten Radler männlich – aus dem Gleichgewicht geriet und nach vorne über den Lenker geschleudert wurde.

Der Flug über den Lenker als beliebtes Sujet in
Fahrradpublikationen des späten 19. Jahrhunderts
Quelle: Viscount Bury & G. Lacy Hillier. Cycling (Badminton Library). 1887: London

Eine Erfindung, die letztlich dazu beitrug, dass man ohne Komforteinbussen wieder kleinere und sicherere Räder bauen konnte, war der pneumatische Reifen. Er wurde im 19. Jahrhundert mehrfach erfunden und ab den späten 1880er Jahren unter dem Namen John Boyd Dunlops für das Velo popularisiert. Was genau den Veterinärmediziner Dunlop dazu veranlasste mit Luftpneus zu experimentieren ist gemäss dem Techniksoziologen und -historiker Wiebe Bijker unklar. Eine der Erzählungen geht so, dass ein Arzt seinem Sohn Johnny aus gesundheitlichen Gründen das Velofahren empfohlen hatte. Der Vater, John Dunlop, erhielt den Rat, dass es noch vorteilhafter wäre, wenn sich das lästige Scheppern der Stahlreifen auf den Pflastersteinen reduzieren liesse. Gesichert scheint, dass sich Vater und Sohn in einer geheimen nächtlichen Testfahrt von den dämpfenden Eigenschaften des Pneus überzeugten. 

Johnny Dunlop auf seinem Dreirad mit Luftpneus, 1888
Quelle: National Motor Museum / Heritage Images

Die Erfindung des Luftreifens war deshalb genauso eine Lärmschutzmassnahme wie es am Ende auch den Fahrkomfort erhöhte. Heutzutage sind die Stahlreifen derart in Vergessenheit geraten, dass wir die Erfindung des Pneus nur noch als Schutz vor Erschütterungen und nicht mehr als Lärmemissionsmassnahme interpretieren. Auch als Dunlop kurze Zeit nach seiner Erfindung mit der Fahrradbranche in Kontakt kam und ein Patent anmeldete, war bereits der Komfortgewinn das überragende Argument. Im Kontext einer radsportbegeisterten Fachwelt überzeugte am Ende jedoch nochmals ein anderes Argument: Es waren die höheren Geschwindigkeiten, die man mit dem pneumatischen Reifen erreichen konnte, die Dunlops Erfindung letztlich zum Durchbruch verhalfen.

Die erste Werbung für den ‚Pneumatic‘ betont den Geschwindigkeitsvorteil
Quelle: R. J. Mecredy & A. J. Wilson, The Art and Pastime of Cycling, 2. Aufl., Dublin: 1890. (Andrew Ritchi
e danke ich für die Illustration)

Bis heute federt der Luftreifen nicht nur Fahrräder, sondern auch Autos, Motorräder und selbst Flugzeuge. Dank den dämpfenden Eigenschaften des Luftreifens und der Erfindung des „Safety Bicycles“ – der Ahne unserer modernen Fahrräder – konnte man bequemer und gleichzeitig schneller als je zuvor über die unebenen Strassen radeln. Dadurch konnte sich die Nutzung des Rads weiter ausbreiten: Das Velo wurde als leichtes Niederrad für Frauen mit Röcken – damals noch immer die Standardkleidung für Damen – oder für weniger draufgängerische und athletische Personen ein attraktives Fortbewegungsmittel.

Werbung für Damenrad mit pneumatischen Reifen (1900)
Quelle:
Untold Lives Blog; British Library

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